Bertolt Brecht & Hanns Eisler: Und ich werde nicht mehr sehen (1941/57)

Voller Wehmut, sogar Schmerz wird hier besungen, was aufgrund eines Weggangs aus der Heimat – vielleicht sogar aufgrund des Weggangs aus dem Leben, das bleibt offen – nie wieder gesehen werden wird. Beide Urheber sprechen als langjährige Exilanten aus Erfahrung.

Liest man das Libretto von Bertolt Brecht alleine, wirkt es zunächst als eher nüchterne Aufzählung von rund fünfzehn Dingen, die das lyrische Ich mit dem Terrain verbindet, das es Heimat nennt und verlassen hat. Die scheinbar formelle Auflistung schließt vieles mit ein, von der größten visuell wahrnehmbaren Einheit der Landschaft bis zum trauten Heim und zeigt auf, wie allumfassend diese Entbehrungen sind. Der holistische Verlust – und damit einhergehend, die Vielfalt dessen, was einmal verfügbar war – wird ausgedrückt, indem räumliche, zeitliche, biografische und sinnliche Dimensionen anklingen. Wie auf einer Harfe zupft der Brecht’sche Text die vielzähligen „Heimat-Saiten“ an, bringt diese zum Schwingen und fördert unterschiedliche Töne zu Tage.

Ein allumfassender Verlust

Da sind zum einen die geografischen Komponenten der Heimat, die buchstäblich den meisten Raum im Lied einnehmen. Es sind die landschaftlichen Merkmale eines Deutschlands, das nicht explizit genannt wird, sich aber von den südlichen Gebirgen über die bayrischen Wälder, die fränkischen Flüsse, die Märkische Heide bis ans Meer definiert. Dass es sich um deutsches Terrain handelt wird zudem über die deutsche Sprache des Textes vermittelt, welche der Muttersprache des Autors entspricht. Nennenswert erscheint dem Sprecher auch die Kulturlandschaft in Form der Weinhügel. Die Herausstellung eines einzelnen Baumes, der Föhre, offenbart über die Hinwendung zum Detail etwas so ernsthaft Zugewandtes, verzweifelt Liebendes. Es macht die persönliche Beziehung eines Menschen zu seiner nichtmenschlichen Umwelt über die zärtliche Geste des genauen Hinsehens greifbar. Wenn das lyrische Ich betont, dass all dies für jede Tages- und Nachtzeit gilt, eröffnet es die zeitliche Dimension. Damit potenziert es den Verlust, indem es alle genannten Eindrücke, die sich vor dem inneren Auge ‚gebildet ‘ haben, in die unterschiedlichen Lichtstimmungen taucht, vom Morgengrauen bis zur Abendsonne. Neben der natürlichen Umwelt sind auch Zeugen menschlichen Schaffens von Bedeutung, etwa Orte. Es zoomt vom Weitwinkel in die Nahaufnahme: über beliebige Städte zu seiner Geburtsstadt, dann an die Werkbank – seine Ausbildungs- oder Arbeitsstätte – bis ins Wohnzimmer: die Stube, in der er gesessen, der Stuhl, auf dem es gesessen hat.

In der anschließenden Wiederholung wird die Drastik des ‚nicht wieder Sehens‘ erneut potenziert, denn der Protagonist ist kein Einzelfall! Allen, die mit ihm gehen, wird es so ergehen. Dir und mir. In dieser kleinen sprachlichen Geste wird klar, dass er Teil einer Gruppe von Menschen ist, die ohne „Frauen und Mütter“ das Land verlassen mussten und es nie wieder sehen werden. Die explizite Nennung der weiblichen Figuren und das Aussparen der männlichen lässt auf einen männlichen Sprecher schließen und ein militärisches Setting vermuten – auch, weil sie nicht zurückkehren werden, entweder weil sie nicht dürfen, nicht können, oder ihr Leben lassen werden, fern von allem, was ihnen lieb ist.

Der unerbittliche Takt der Fremde

Die Formulierung dieser konkreten Punkte bietet eine sehr individuelle Sicht, die trotz oder gerade aufgrund ihrer persönlichen Perspektive für andere nachvollziehbar wird. Die sprachliche Tiefe spiegelt sich in der Musik Hanns Eislers, bei dessen Liedkompositionen üblicherweise die Klavierstimme nicht weniger bedeutend ist als der Text oder der Vokalpart. Zu Beginn trägt Eislers Melodie die Worte, Triolen unterstreichen den natürlichen Sprechduktus – egal ob sich eine Interpretation für ein etwas schnelleres oder ein tragendes Tempo entscheidet. Dies bestimmt jedoch, ob das Lied eher den Schmerz betont oder den militärischen Marschschritt. Letzterer wird von der Klavierbegleitung angeführt, die den Takt mit der Unausweichlichkeit eines Metronoms vorgibt: Ihr Rhythmus besteht im gesamten Lied allein aus Viertelnoten; nur in sechs von 42 Takten ruht sie, indem die Akkorde durch Legato-Bögen über mehrere Takte hinweg liegen bleiben. Sie wird langsam und hält inne, wenn der Sänger über die Städte bis zum Stuhl hineinzoomt und sich in diesem vertrauten Erinnerungsraum gedanklich niederlässt. Danach treibt der stete Rhythmus den Protagonisten wieder an, treibt ihn fort, vertreibt ihn letztlich. Die Gesangstimme sucht mit Vierteltriolen (drei Noten verteilt auf zwei Viertelschläge) aus dem Raster auszubrechen und dem uniformen Gleichschritt zu entkommen; es gelingt aber nicht. Letztlich lässt das Klavier den Sänger im Schlussakkord in der Luft hängen, wenn es mit einer Pause endet: Man fällt förmlich mit dem Sänger in dieses Nichts, wenn er im letzten Takt nach „bitteren“ von der Begleitung verlassen wird, und auch in der Melodie keine Auflösung der Harmonie erfolgt. Danach ist nur noch die Leere, die sehnende Erinnerung, die Offenheit der Fremde. Und die verunsichernde Gewissheit, dass es kein Wiedersehen geben wird.

Heidelberg im Dezember 2025
Elisabeth Bohnet, TP C04

Zu sehen ist der Text des Liedes „Und ich werde nicht mehr sehen“

Und ich werde nicht mehr sehen das Land (Arr. for Soprano and Baroque Ensemble)

Und ich werde nicht mehr sehen (Holger Falk, Bariton und Steffen Schleiermacher, Piano)