Edgar Reitz: Ich bin hier zu Hause…(2022)

In einem Interview mit zwei Spiegel-Journalisten, geführt 2022 anlässlich der Veröffentlichung der Autobiografie von Edgar Reitz, Autor und Regisseur der fast 60-stündigen Filmreihe „Heimat“ (1986–2013), wird der Begriff Heimat einer aufschlussreichen Spektralanalyse unterzogen.

„Ich bin hier zu Hause, mehr, als ich es jemals an einem anderen Ort gewesen bin. Aber es wäre doch ein bisschen gewagt, etwas Heimat zu nennen, das am Gartenzaun endet.“, so antwortet der 1932 geborene Autor und Regisseur Edgar Reitz auf eine Auftakt-Frage der beiden Spiegel-Journalisten Tobias Becker und Lars-Olav Beier. Beide sind 2022 zu ihm gereist, um aus Anlass seiner im selben Jahr erscheinenden Autobiografie ein Gespräch über – wie es einleitend heißt – „Heimweh, Fernweh und der Kunst der Erinnerung“ zu führen. Der Interviewte empfängt die beiden in einer Villa in Schwabing, nahe dem Englischen Garten, „einer der teuersten Gegenden Münchens und wohl auch des ganzen Landes“, wie zu Beginn des Spiegel-Beitrags eigens betont wird. Die daher, wie noch zu sehen sein wird, etwas als Provokation gestellte Frage von Becker und Beier wie auch die Antwort des aus dem Hunsrück stammenden Reitz sind sicherlich auch vor diesem Hintergrund zu lesen: „Herr Reitz, Sie leben seit 35 Jahren in diesem Haus. Ist es Heimat für Sie?“ Die Reaktion des Filmregisseurs und Autors, der zwischen 1986 und 2013 den monumentale Spielfilm-Zyklus „Heimat“ vorgelegt hatte, scheint zunächst vor allem eine geschickte Parade, mit der er sich von dem teuren Umfeld abzugrenzen scheint: Sein Grundstück, auf dem er sich mehr zu Hause fühlt als jemals an einem anderen Ort, ende am Gartenzaun. Mit der so getroffenen Differenzierung von zu Hause und Heimat stellt sich jedoch zugleich die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Sphären zueinander: Was genau unterscheidet zu Hause von Heimat? Zudem wird mit dieser Antwort indirekt auch die Frage aufgeworfen, wie groß Heimat eigentlich sein muss, um überhaupt Heimat sein zu können. Ein einzelnes Grundstück mit Haus und Garten sind Reitz zufolge nicht ausreichend – aber was kann dann alles Heimat sein? Die Straße, in der man wohnt? Der Ort, in dem man lebt? Die Gemeinde? Das einzelne Bundesland? Oder gleich das ganze Land, die Nation? 

Ein schimmelnder Heimatbegriff und wirtschaftliche Entfremdung

Auch noch in einer anderen Weise grenzt Reitz sich später von einer zu starken Einengung ab, wenn er positiv konnotierte Heimat in Opposition zu einem „schon wieder“ ‚schimmelnden‘ Heimatbegriff setzt. Denn ihm zufolge bedarf echte Heimat offenbar gerade einer Kenntnis der größeren umliegenden Welt, verdirbt jedoch, wenn nicht über den Gartenzaun hinweg geblickt wird: „Ein verstümmelter, ideologisch durchsetzter Heimatbegriff wächst nur da, wo die Leute außer ihrem Misthaufen nichts kennen“, antwortet Reitz auf die Frage „Wie blicken Sie heute auf den Begriff?“ Dass die beiden Journalisten die Frage nach dem Verhältnis des Autors und Regisseurs zu seinem kostspieligen Umfeld tatsächlich auch als Provokation angelegt hatten, wird daran deutlich, dass sie später noch einmal nachfassen: „München ist Deutschlands teuerste Stadt.“ Und: Kann Heimat zu teuer werden, um noch Heimat zu sein?“ Reitz stimmt dem zu, indem er darauf hinweist, dass die Preise sich so entwickelt hätten, „dass man an einem solchen Ort eigentlich gar nicht mehr leben kann. Das alles ist gespenstisch.“ Es kann in Bezug auf Heimat also auch wirtschaftliche Entfremdungsphänomene geben.

Ein Thema für unendliches Erzählen

In ihrem Eingangsstatement beziffern Becker und Beier die Zeitspanne, die der Befragte nun schon in Schwabing wohnt, sehr genau mit 35 Jahren – der Interviewte geht darauf nicht ein, aber der Hinweis regt dazu an, über die Frage nachzudenken, ob es wohl einer bestimmten Mindestfrist bedarf, um etwas Heimat nennen zu dürfen: Wie lange muss man irgendwo gelebt haben, um es als Heimat empfinden zu können? Die Journalisten knüpfen später an ihre Eröffnungsfrage an, wenn sie Reitz’ aktuelles Zuhause in direkte Opposition zu seinem Geburtsort und damit seiner, wie sie es nennen: „ersten Heimat“ setzen. Die Bezeichnung ist sicherlich im Sinne einer biografischen Chronologie zu verstehen, zugleich aber spielt sie auch geschickt auf die Titel einzelner Teile von Reitz’ „Heimat“-Trilogie an: „Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ ist der zweite, 1992 vorgelegte Zyklus überschrieben, der 2004 folgende ist „Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende“ benannt. Kann man also mehrere Heimaten haben? Auf die entsprechende Frage „Was hat Sie einst weggetrieben aus Ihrer ersten Heimat, dem Hunsrück?“ antwortet der Interviewte, dass man sich auf solch eine Frage ein Leben lang immer wieder neue Antworten gebe. 

Heimat, so wird in dem Gespräch deutlich, ist nicht nur ein Thema, zu dem man immer wieder neue Antworten geben muss, um ihm gerecht zu werden, sondern das auch immer wieder neue Fragen hervorruft. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass der sich in seinen Arbeiten immer wieder mit dem Phänomen Heimat auseinandersetzende Edgar Reitz in Bezug auf sich selbst sagt: „Unendliches Erzählen – das ist mein Ideal.“

Heidelberg, im Juni 2025
Henry Keazor, TP C04

Zum Interview (Paywall)

 

Textquelle: Edgar Reitz, Autor und Regisseur der fast 60-stündigen Filmreihe „Heimat“ (1986–2013) im Gespräch mit den Spiegel-Journalisten Tobias Becker und Lars-Olav Beier
DER SPIEGEL vom 10.09.2022, Seite 118-121

Zu sehen ist ein Zitat des Autors Edgar Reitz, das zu Beginn des Fließtexts vollständig zitiert wird.