Walther von der Vogelweide: Owe, war sint verswunden alliu miniu jar (um 1220)
Das Lied von Walther von der Vogelweide wirkt zugleich fremd und vertraut. Denn das 800 Jahre alte Ich fühlt sich nicht nur nicht mehr Zuhause, sondern versteht auch die Welt nicht mehr.

Walther von der Vogelweide, der wohl bekannteste deutschsprachige Dichter des Mittelalters, spricht in seinem Lied vertraute Themen an, die noch heute viele Menschen im Laufe ihres Lebens berühren: Altern, Einsamkeit und ein Unverständnis für das, was sich auf der Welt so tut. Dennoch ist die Sprache eine andere, fremde. Das Mittelhochdeutsche unterscheidet sich in Satzstellung, Wortwahl und Aussprache von unserem heutigen Deutsch. Auch die Bilder, die verwendet werden, und die Strophenform irritieren heutige Lesegewohnheiten. Vertraut und vielleicht aktuell erscheint der pessimistische Ton, den das Ich anschlägt. Es sieht, ganz gleich wohin es blickt, nur Negatives. Nirgends gibt es gute Neuigkeiten. Was bleibt einem da anders übrig, als zu Beginn und Ende einer jeden Strophe eindringlich aufzuseufzen: Owê.
Owê, wie die Zeit vergeht
Worüber klagt das Ich? Das Ich ist alt geworden. Diese Einsicht kommt wie über Nacht. Wie aus einem Traum erwacht das Ich, verzweifelt darüber, dass sich die eigenen Leute, der Ort der Herkunft verändert, mehr noch, entfremdet haben. Wie ist es möglich, dass in so kurzer Zeit die schönen und glücklichen Tage (der Jugend) vorbei sind? Dass sich alles verändert hat, der Wald für neue Felder weichen musste; die Landschaft nun so gar nicht mehr vertraut ist und das einzige Beständige ausgerechnet das unbeständige Fließen des Flusses ist?
Owê, was für Zeiten
Und worüber klagt das Ich noch? Über etwas, das es selbst auch tut. Es klagt, dass die Leute nur mehr klagen. Dass niemand mehr froh ist, alle traurig sind, niemand mehr tanzt und singt. Doch was ist passiert? Ist es allein der pessimistische Blick auf die Jugend, auf das, was vorbei ist? Ja, aber nicht nur. Es sind turbulente Jahre, politisch und wirtschaftlich gibt es wenig Grund zu lachen. Die Sorge liegt wie ein Schleier über dem Land. Alle sind davon erfasst, selbst die Vögel singen verhaltener. Diejenigen, die in dieser Zeit stecken, können nur in pessimistischen Superlativen denken: Es sind die schlimmsten Jahre, die die Menschheit jemals erlebt haben. Zugleich bremst sich das Ich aber auch in seiner Klage – denn wieso sollte es überhaupt darauf hoffen, Freude auf Erden zu finden?
Schluss mit Owê!?
Eine Möglichkeit, sich von der Sorge zu lösen, ist der hoffnungsvolle Blick auf eine andere Welt, eine neue Heimat. Denn wie kann man sich in einer Welt zu Hause fühlen, die nur so tut, als sei sie süß und bunt, die doch aber bitter und schwarz ist? Das Ich schlägt eine doppelte Weltflucht vor. Das Ich hofft auf eine Freude anderswo. In einem anderen Land soll das Owê abgelegt und zu einer Freude, die im Jenseits ewig währt, gewandelt werden. Das andere Land ist Jerusalem; unmissverständlich ruft das Ich zur Teilnahme am Kreuzzug auf, um sich einen Platz im himmlischen Jerusalem, der jenseitigen Heimat, zu sichern. Für die heutige*n Leser*innen wirkt diese Lösung auf den ersten Blick wahrscheinlich befremdlich. Mit einem zweiten Blick kann das Befremden abgemildert werden: Denn was ist der Aufruf zum Kampf anderes, als ein Klammern an eine Hoffnung? Eine Hoffnung darauf, dass sich große und komplexe Probleme, durch (einfache) Taten lösen lassen. Die Hoffnung, die das Ich anbietet, befriedigt den Wunsch nach einer klaren Perspektive. Eine Perspektive, die für das Ich jedoch in nicht ganz so greifbare Nähe rückt. Die Verwendung des Konjunktivs am Ende spielt den Ball den Hörer*innen zu; das Ich kann lediglich eine Wahlempfehlung aussprechen, die Entscheidung liegt jedoch bei jedem Einzelnen.
Bei der Lektüre von Walthers Owê bleibt trotz der poetischen Schönheit und Raffinesse ein Beigeschmack, den wir heute vielleicht populistisch nennen würden: Das Ich ermutigt zu einer scheinbar einfachen, wenngleich verheerenden Lösung aller Probleme. Ein Wunsch mit all seinen Schrecken, der heutigen Leser*innen womöglich vertrauter denn je ist. Owê
Heidelberg, im April 2025
Nora Grundtner, TP A03
Textquelle:
Walther von der Vogelweide: Owe, war sint verswunden alliu miniu jar? Hrsg. von Björn Reich. In: Lyrik des Deutschen Mittelalters, online hrsg. von Manuel Braun, Sonja Glauch und Florian Kragl. Veröffentlicht seit 26.10.2023 / Fassung vom 29.02.2024 [https://www.ldm-digital.de/show.php?lid=4137&mode=0x600].
Moderne Übersetzung: Nora Grundtner