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Die Heimat im Gesangbuch

Ein Seminarbericht von Christian Brohm, Miriam Falk, Gero Göbel, Friederike Hallet, Patricia Kerl, Tabea Klümpen, Michael Müller und Noa Wörner

Im Rahmen des SFB 1671 Heimat(en) fand im April und Mai 2025 ein interdisziplinäres Blockseminar zum Thema „Ästhetiken der Beheimatung“ statt, das dieser Frage aus theologischer und musikwissenschaftlicher Perspektive nachging. Beginnend mit einer Einführung in die jeweiligen Fachbereiche Kirchenmusik und Theologie durch die Seminarleiterinnen Christiane Wiesenfeldt und Friederike Nüssel bot der Besuch von unterschiedlichen Gottesdienstformaten durch die Seminarteilnehmenden die erfahrungsbezogene Grundlage für die gemeinsame Reflexion über Musik im Gottesdienst im Seminar. 

Diese Aufnahme zeigt Teilnehmer:Innen des Seminars im Säulensaal der Musikwissenschaft.

Hierbei zeigte sich besonders die Vielfalt von Musik in den verschiedenen konfessionellen Strömungen des Christentums. Besucht und diskutiert wurden römisch-katholische Messen, Gottesdienste der evangelischen Landeskirche und freier evangelischer Gemeinden sowie ökumenische Taizé-Andachten. Einige der Besuche fielen auch in die liturgisch besonders dichte Kar- und Osterzeit.

In den Diskussionen standen verschiedene Fragen im Vordergrund: Wie viel Raum unterschiedliche Arten von Musik im Gottesdienst einnehmen dürfen, ob sie den Ritus unterstützen oder stören, divergiert zwischen christlichen Konfessionskulturen und ist über die gesamte Kirchengeschichte hinweg diskutiert worden. Während beispielsweise in den Gemeinden der Pfingstbewegung explizit versucht wird, neue Gläubige durch eher populäre, leicht sangbare Musik zu gewinnen, verzichtet der orthodoxe Gottesdienst bis heute auf jegliche Musikinstrumente, da nach orthodoxer Auffassung nur der Mensch mit seiner Stimme liturgisches Subjekt sein kann. Im Seminar wurden zahlreiche Argumente für und wider diese unterschiedlichen Auffassungen der ekklesiologischen Bedeutung der Musik diskutiert, um die abweichenden Praktiken der Konfessionen zu verstehen und eigene Positionen entwickeln zu können.

Heimatliche Soundscapes und kirchliche Sozialisierung

Die Frage, inwiefern Musik Heimatgefühle prägt und evoziert, stand dabei durchweg im Hintergrund. Individuelle Heimatvorstellungen werden unter anderem durch Erfahrungen, Erlebnisse und Gefühle konstituiert. Schon die geringsten Sinneserfahrungen reichen aus, die Assoziation von Heimat hervorzurufen. Dabei kann es sich um den Geruch von Lagerfeuer, den Geschmack vom Lieblingsessen oder eben bestimmte Geräusche handeln. Gerade die Klangumgebung, auch Soundscape genannt, kann hier einen wichtigen Beitrag leisten: der Klang einer vertrauten Stimme, der Wind in den Blättern, das Läuten der Kirchenglocken oder Lieder, die bestimmte Anlässe begleiten. Musik ist Teil der Sinneserfahrungen, durch die Menschen Heimat erleben und sich an Heimat erinnern können. All das ist Teil der menschlichen Erfahrung von und Wiedererinnerung an Heimat.

In Kirchengemeinden findet sich häufig ein Kanon an Gemeindeliedern, der nicht nur innerhalb einer lang bestehenden Gemeinde zu Heimatgefühlen führen kann, sondern auch einen Wiedererkennungswert in überregionalen oder internationalen Gemeinden birgt. Den als Heimat codierten Zugehörigkeitsgefühlen und Kohärenzerfahrungen wird somit im kreativen Raum der Musik ein Ort gegeben, der nicht nur dem Individuum gehört, sondern oft mit anderen geteilt und somit portabel wird. Gleichzeitig kann bei Gästen, die diese Gottesdienste besuchen, ein Gefühl des Befremdens oder gar des Ausgeschlossenseins aufkommen, beispielsweise wenn traditionelles Liedgut als veraltet empfunden wird. Hier spielen kirchliche Sozialisation und Herkunftsmilieu eine entscheidende Rolle, wie sich im Austausch über eigene Erfahrungen im Seminargespräch herausstellte.

„Meine Heimat ist dort droben“ oder „Welcome Home“?

Lokale oder regionale Heimat kann auch explizit Thema der Musik sein, so wie es etwa bei der sinfonischen Dichtung Má vlast (Mein Vaterland) von Bedřich Smetana, bei dem Volkslied Kein schöner Land oder bei dem Hip-Hop-Song Heidelberg von Advanced Chemistry der Fall ist. In der Kirche wird das Besingen von Heimat oft mit der Sehnsucht nach Gott verbunden, bei dem die ‚wahre‘ Heimat erwartet wird, zum Beispiel in Paul Gerhardts Ich bin ein Gast auf Erden (EG 529, entstanden 1666/7). Während der frühneuzeitliche Text die alte christliche Vorstellung einer transzendenten Heimat als Ziel der irdischen Pilgerreise aufgreift, begegnet heute in neueren kirchlichen Kontexten ein erstarktes Bewusstsein für das existenzielle Heimatbedürfnis von Menschen auch schon im Hier und Jetzt. 

Zu sehen ist ein Notenblatt mit Text der ersten Strophe des Liedes „ich bin ein Gast auf Erden“ von Paul Gerhard

Eindrückliche Beispiele für innovative Heimatinszenierungen in geistlicher Musik präsentierte der SFB-Gastwissenschaftler Mark Porter in einem zum Seminar gehörigen Workshop zu aktuellen musikalischen Entwicklungen von angloamerikanischen Megachurches über postevangelikale Gemeinden bis zu Forest Churches. Manche Kirchen, die sich als ‚seeker friendly‘ verstehen, machen es bewusst zu ihrem Konzept, ein Zuhause anzubieten, so beispielsweise die global vernetzte Hillsong-Church, die vor allem durch ihre Worship-Musik bekannt ist.

Den Abschluss des Seminars bildete eine Podiumsdiskussion mit KMD Markus Uhl, Bezirkskantor der Erzdiözese Freiburg für die Dekanate Heidelberg und Wiesloch und Kirchenmusiker der Jesuitenkirche Heidelberg, sowie KMD Michael Braatz-Tempel, Kantor und Organist der Friedenskirche Handschuhsheim. Sie berichteten davon, wie sie in ihrer täglichen Arbeit als Kirchenmusiker mit Fragen nach Beheimatung – aber auch Befremden – umgehen. Markus Uhl stellte heraus, dass Musik die besondere Dramaturgie des Gottesdienstes erst möglich mache und in dieser auch der bewusste Bruch mit Vertrautem Platz finde, so beispielsweise in der Karfreitagsliturgie oder bei der Kommunion. Michael Braatz-Tempel hob wiederum unter pädagogischem Blickwinkel die Relevanz musikalischer Bildung für das Leben der einzelnen Gemeindemitglieder hervor, beginnend bereits im Kindesalter.

Neue Perspektiven

Die Fragestellung des Seminars nach Ästhetiken der Beheimatung hat sich als äußerst produktiv, aber nicht abschließend beantwortbar erwiesen. Die von kirchlicher Musik vermittelten Gefühle von Vertrautheit und Zugehörigkeit näher zu beleuchten, machte deutlich, dass diese von einer großen Pluralität und Differenz in den verschiedenen Traditionen und kirchlichen Verständnissen mitgeprägt sind. Der Verbindung von Heimat und Musik in religiösen Kontexten weiter nachzugehen, stellte sich für die Seminarteilnehmer*innen als ein noch weiter zu vertiefendes Anliegen dar, bei dem dann auch noch intensiver auf heuristische Vorarbeiten zum empirischen Arbeiten einzugehen wäre. Auch weitere ‚Ästhetiken‘, wie Architektur und Bildlichkeit, neben und in Verbindung mit der Musik könnten dabei in den Blick geraten.