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Drei Fragen an Molli Hiesinger

Molli (Marie-Luise) Hiesinger hat in Heidelberg Politologie und Germanistik studiert. Ihr Herz gehört - seit sie lesen kann - der Literatur. Als Lehrerin konnte sie viele Jahrzehnte lang Jugendliche zum kreativen Schreiben und zur Auseinandersetzung mit Literatur anregen. 2014 gehörte sie zum Bewerbungskomitee Heidelberg als Literaturstadt im UNESCO Creative Cities Network

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Heidelberger Schreibwettbewerb ins Leben zu rufen?

Jahrzehntelang habe ich von ihnen geträumt: von Menschen, die in Straßenbahnen sitzen, in Zügen, in Wartezimmern, auf Parkbänken – und schreiben. Briefe, Tagebuch, was auch immer. Schreibende Menschen sind schöpferisch, beschäftigen sich, erfinden, denken nach. Ich dachte: Was wäre, wenn alle schrieben? Schreiben ist ein Vorgang, bei dem jeder für sich ist – ohne ein Gegenüber und ohne ein Korrektiv, das eingreift. Der oder die Erzählende ist ganz bei sich und hat die absolute Freiheit zu gestalten. Eine faszinierende Idee: Eine ganze Stadt schreibt.

Ein Selfie von Molli Hiesinger

Schreibwettbewerbe gibt es viele. Aber keinen, der alle Menschen einer Stadt einlädt, Kurzgeschichten zu schreiben. Meine Vision war es, Lust aufs Schreiben zu verbreiten. Leute, schreibt! Überall sind Geschichten! Rugbyspieler, Polizisten, Barkeeper, Brotverkäufer, Apotheker, Kellner, Friseure usw. Jeder Tag ist ein Geschenk für eure Fantasie. Neue Begegnungen, unerwartete Wiedersehen, überraschende Erlebnisse. Daraus könnten Geschichten entstehen. Ihr alle könnt erzählen. Das Schreiben ist vielleicht Neuland für euch, aber ich sage euch: Setzt euch hin, fangt an!

Im „City of Literature“-Jubiläumsjahr 2024 fand der Wettbewerb zum ersten Mal statt. Wie haben Sie ihn erlebt und was hat Sie besonders beeindruckt?

Es hat mich sehr gefreut, dass die Stadt Heidelberg das Projekt, welches im Rahmen von „Mehr Literatur wagen“ das Licht der Welt erblickte, tatkräftig und finanziell unterstützt hat. Das Kulturamt leistete wertvolle Arbeit mit dem Ziel, möglichst viele Menschen aus allen Stadtteilen und Milieus zum Schreiben zu bringen. 

320 Bürgerinnen und Bürger unserer schönen Stadt fühlten sich angesprochen und reichten ihre Kurzgeschichten ein. 307 Texte erfüllten die Teilnahmebedingungen und wurden von einer sechsköpfigen, kompetenten Jury sorgfältig gelesen und bewertet. Was dabei herauskam: Zehn Autorinnen und Autoren erhielten von Manfred Lautenschläger gestiftete Preise, die sie am 12. November 2024 in der gefüllten Hebelhalle bei einer schön gestalteten Preisverleihung in Empfang nahmen. Mein größter Wunsch war in Erfüllung gegangen: Teilnehmende kamen vom Emmertsgrund, aus Ziegelhausen, vom Pfaffengrund, aus der Altstadt, der Weststadt, Neuenheim, Handschuhsheim, usw., und sie kamen aus allen Berufen: Pfarrer, Polizisten, Pädagogen, Therapeuten, Künstler, Musiker, Techniker, Ärzte, Angestellte usw. 

Es schien, als hätten es die Vögel von den Dächern gesungen: Schreibt! Die ganze Stadt schreibt! Du kannst das auch! Viele Teilnehmende erwähnten in ihren E-Mails, dass sie sich zum ersten Mal getraut haben, einen literarischen Text zu schreiben und diesen zu teilen. Ohne Schwellenangst, aber mit viel guter Laune. So erlebten sie das Projekt als Ermutigung: Setz dich einfach hin und schreibe eine Geschichte. Die Jüngste war acht Jahre alt, der Älteste über neunzig. Menschen, deren Muttersprache nicht deutsch war, schrieben auch. Erfahrungen des Ankommens, des Fremdseins, viele Erinnerungen. Die Themen waren mannigfaltig: Altern, Krankheit, Berufsleben, Kneipenleben, Nachkriegszeit, Studium, Liebe, Tod, usw. Immer war der Bezug zu Heidelberg dabei. Es gab auch historische Geschichten, die in Heidelberg spielten. 

Auf jeden Fall ist es richtig zu sagen: Dieser Kurzgeschichtenwettbewerb war eine Bereicherung für unsere Kulturstadt. Mitten im heutigen Leben, mitten aus dem Leben.

 Und warum wird dieses Jahr über Heimat(en) geschrieben?

Schon seit Beginn des ersten Wettbewerbs habe ich für eine Fortsetzung gekämpft: Was so schön ins Rollen gekommen ist, soll nicht aufhören. Ein großes Glück: Dank Bürgermeisterin Martina Pfister fand ich Kooperationspartnerinnen, mit denen ich das Projekt fortsetzen kann: Michaela Böttner und Dr. Esther Ineke Dubke vom Sonderforschungsbereich 1671 Heimat(en): Phänomene, Praktiken, Darstellungen an der Universität Heidelberg. Und da hat es sich thematisch natürlich angeboten, dass sich die Kurzgeschichten dieses Jahr um das Thema Heimat(en) drehen. 

Heimat ist allgegenwärtig – in politischen Debatten, auf persönlichen Wegen, in Erinnerungen und Träumen. Und doch bleibt sie schwer zu fassen: nie eindeutig, nie für alle gleich. Was genau ist Heimat also? Gibt es die eine Heimat überhaupt – oder nicht vielmehr viele? Für manche ist Heimat ein bestimmter Ort, für andere ein Gefühl, ein Mensch, ein Klang, ein Geruch, eine Sprache oder ein Geschmack. Heimat kann Heimat bleiben, sie kann aber auch verloren gehen, sich verändern, wachsen oder ganz neu erfunden werden. Heimat kann Menschen verbinden und voneinander trennen. Sie kann ein Ort der Rückkehr oder des Aufbruchs, leise Erinnerung oder laute Gegenwart sein.

Ich freue mich auf die nächste Runde, die Zusammenarbeit und viele Geschichten zum Thema Heimat(en).