Campino: Früher war Zuhause da, wo man Weihnachten feiert… (2020)
„Heute ist es komplizierter.“ Dies sagt Campino, der Sänger der Punkband Die Toten Hosen, in seinem Buch „Hope Street. Wie ich einmal englischer Meister wurde.“

Das Bild von Weihnachten wird, zumindest in westlichen Kontexten, häufig als Sinnbild für Heimat bemüht. Tannenduft, Kerzenschein und vertraute Musik dienen als gefühlvolle Transmitter, die über die verschiedenen Sinne (Geruch, Gehör, Wärmeempfinden) dieses wohlige Gefühl im Bauch verursachen, das meldet: „ich bin zu Hause“. Dabei ist völlig klar, dass nicht jeder positive Erinnerungen an Weihnachten hat oder es gar feiern möchte. Auch in bürgerlichen Familien gehört der Familienkrach ebenso dazu wie das politisch korrekte Bewusstsein, dass viele Menschen gerade jetzt einsam, krank oder hungrig sind, während wir uns – je nach Familientradition – an Gans, Kartoffelsalat oder Bratäpfeln erfreuen. Dennoch bleibt dieses ‚Urgefühl‘, dass Weihnachten positive Gefühle auslöst und für fast jeden ein Ort der Erinnerung und des Sich-Wohlfühlens ist.
Das gilt auch für Campino, den Sänger der Toten Hosen, mit bürgerlichem Namen Andreas Frege, aufgewachsen in Mettmann bei Düsseldorf als Sohn einer englischen Mutter und eines deutschen Vaters, die sich allen in Nachkriegsdeutschland vorherrschenden Vorurteilen zum Trotz trauten, eine britisch-deutsche Familie zu gründen. Und genau da wird es kompliziert, wie Campino in seinem autobiographischen Buch Hope Street treffend konstatiert. Zugegeben, das Werk ist weniger ein Buch über Heimat als über Fußball, verfolgt doch der eingefleischte FC Liverpool-Fan selbst auf Konzerten der Toten Hosen die Fußballspiele seines geliebten Teams, indem er auf der Bühne einen Monitor zu seinen Füßen platziert. Wahrscheinlich lässt sich der Song Tage wie diese auch besonders hinreißend grölen, wenn der LFC gerade ein Tor geschossen hat. Und wenn Weihnachten auch bei ihm mit Kerzen, Kirche und Musik verbunden ist, bleibt vor allem die Hoffnung auf „den lieben Gott: Möge er uns Punkte schenken.“
Fußballfieber als Praxis von Heimat
Allerdings hat Fußballfieber durchaus etwas mit Heimatgefühlen zu tun, da steht der Sport Weihnachten in keiner Weise nach. Welchem Fan-Club man angehört, was frau damit verbindet und welche Emotionen er auslöst, ähnelt den Affekten, die im Zusammenhang mit Heimat ausgelöst werden. Heimat kann Herkunft bedeuten, ist aber nicht nur darauf zurückzuführen, sondern wird ebenso durch Lebenswege und Mobilität bestimmt. So bemüht sich Campino redlich zu erläutern, wie, warum und in welcher Form er seine Liebe zum LFC lebt. Aber ist es wirklich ein Bemühen um Erklärung oder nicht doch vielmehr eine über 300 Seiten lange Hommage an eine Beziehung, die für ihn ein nahezu existentielles Gefühl darstellt und somit eine Empfindung von Heimat ist?
Damit sind wir bei der Komplexität und Widersprüchlichkeit des Phänomens Heimat angelangt, wie sie gelebt und praktiziert, aber auch erinnert und in diesem Fall von Campino einfühlsam dargestellt wird. Wie zum Beispiel in der Beschreibung des Ferienortes Bude an der Nordküste von Cornwall. Jeden Sommer brach er mit seiner Mutter und den fünf Geschwistern hierhin auf, um die englische Verwandtschaft zu besuchen. Auch als Erwachsener ist er immer wieder dorthin gefahren, seine Füße trugen ihn „wie von selbst zurück.“ Und dabei stellt sich „jedes Mal von Neuem das Gefühl von Vertrautheit ein und die Gewissheit, dass manche Dinge im Leben nicht verloren gehen.“ Es ist eine romantisierende Form von Ortsverbundenheit, bei der nicht nur Heimatforscher*innen hellhörig werden!
Emotionale Bilder von Heimat
Dass dieses Gefühl allerdings nicht objektivierbar ist, weiß natürlich auch Campino: „Bude hat keinen Glamour, keine großen Attraktionen, es regnet oft und ist fast immer windig. Vielleicht wirkt die Stadt auf den ersten Blick auch nicht besonders schön, aber es ist gerade diese Schlichtheit, die ich so liebe. Bude will sich nicht wichtiger machen als die Natur, die hier mächtig ist und das Leben der Menschen bestimmt. Der extreme Wechsel zwischen Ebbe und Flut, die heftige Brandung, die Felsformationen unter den Klippen und darüber die Wiesen und Hügel.“ Auch wenn dieses Buch vor allem von Fußball und der Liebe zum LFC handelt, ist diese Darstellung über den Zusammenhang von Natur, Emotionalität und Heimatverbundenheit ein nahezu ähnlich ikonographisches Bild wie Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer.
Heimatgefühle im Dialog
Aber auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive lässt sich einiges über das Wechselspiel von Heimat lernen. So sind die interkulturellen Beschreibungen von Campino, der zweisprachig aufgewachsen ist, nicht nur vergnüglich zu lesen, sondern durchaus auch alltagstauglich und somit ethnographisch relevant. So wie diese Anekdote über seine Eltern:
„Mein Vater konnte den Namen seines Sohns John perfekt englisch aussprechen, Dschonn. Er konnte auch den Namen seiner Tochter Judy perfekt aussprechen. Dschudy. Den Namen seiner Frau hingegen, Jennie, sprach er deutsch aus. Jänni wie Januar. Ab und zu, wenn es ihr zu blöd wurde, nannte sie ihn Dschoakim, englisch ausgesprochen. „Jänni, wo liegt denn die Gartenschere?“ „Wo du sie hingelegt hast, Dschoakim.“.
Hätten wir es als Forscherinnen und Forscher besser ausdrücken können, wie Heimat im Alltag praktiziert wird? Ich denke: Nein! Hope Street ist somit nicht nur eine Hommage an den Fußball, sondern ein faszinierender und zugleich amüsanter Einblick in die große Frage, was Zuhause auch jenseits von Bachelard, Heidegger & Co. bedeuten kann.
Heidelberg, im September 2025
Ulrike Gerhard, TP B04
Textquelle: Campino: Hope Street. Wie ich einmal englischer Meister wurde. Piper 2020. München