This page is only available in German.

Max Brod: Der Heimatlose (1913)

„Ihr fremden Menschen alle“: Max Brods Gedicht „Der Heimatlose“ entwirft einen Gegensatz von Fremdheit und Heimat, aber welche Heimat ist gemeint?

In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg konnte man im deutschsprachigen Raum unter Heimatlosigkeit etwas sehr Konkretes und Sichtbares verstehen: Unzählige zogen auf der Suche nach Arbeit in die industriellen Zentren, flohen vor Pogromen und Verfolgung aus Osteuropa, wohnten dann in überfüllten Mietskasernen oder zogen weiter in die Hafenstädte, um sich nach Übersee einzuschiffen. Das Wort Heimatlosigkeit war mit Schmerz und Verlust besetzt, und die Zeitungen berichteten vom Elend derer, die ihre Heimat verloren hatten. 

Doch es gab auch Stimmen, die das gleiche Wort für sich ganz anders bewerteten. Unter Künstlern und Intellektuellen verbreitete sich der Gedanke, zu einer Avantgarde der Heimatlosen zu gehören. Sie begriffen die Erfahrungen der Moderne, die Elektrifizierung der Städte, die Mechanisierung des Verkehrs, auch die Entwurzelung so vieler, die nun in Massenquartieren hausten, als starke Einwände gegen die in bürgerlichen Kreisen gepflegte Vorstellung von trauter Heimat. Diplomatische Krisen häuften sich, Kriege und Unruhen flammten an den Rändern Europas immer wieder und immer bedrohlicher auf. Villenviertel und Parkanlagen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwas faul war an der Behaglichkeit, die hier beschworen wurde. 

Heimatlosigkeit, auftrumpfend und prekär 

In dieser Atmosphäre veröffentlichte Max Brod sein Gedicht Der Heimatlose. Das Ich, das hier eine fremde Stadt besucht, scheint genau so ein avantgardistischer ‚Heimatloser‘ zu sein. „Niemand liebt mich dort / und niemand hat mich satt“: Prekär und selbstzufrieden zugleich zieht dieses Ich durch die fremde Stadt. Die Regeln und Selbstverständlichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft gelten für es nicht, es lädt sich selbst ein und tanzt den Bürgern fast triumphal auf der Nase herum. Aber zugleich ist es isoliert. Wie ein Gespenst rührt es in der Nacht an die „Eisenketten“ um ein Denkmal, während die fleißigen Bürger stets „bei Tag“ unterwegs sind. 

„Ich werde allen Gassen / Nicht nützen und nicht schaden.“ Das ist, was der junge Max Brod „Indifferentismus“ nannte, eine Haltung, die sich dem Nutzendenken und der Vorstellung von nationaler Zugehörigkeit verweigerte. Und tatsächlich erschien das Gedicht in der Zeitschrift Die Aktion, die wie keine andere für einen unorthodoxen Antinationalismus votierte. Im antibürgerlichen Impuls allein geht das Gedicht jedoch nicht auf. Am Ende bleibt ein Rätsel, das vom Ich des Gedichts auch so benannt wird: Das eigene Herz, so heißt es, will das Ich in „tiefste Heimat“ tragen. Also doch Heimat-Pathos?

Was heißt hier „tiefste Heimat“? 

Nun war die Veröffentlichung in der Aktion (1914) erst die zweite. Der Ort, an dem Brod sein Gedicht zuerst publizierte, war die kulturzionistische Zeitschrift Die Freistatt (1913). Das weist auf eine andere, ganz zentrale Bedeutungsdimension des Gedichts hin. Denn Max Brod schrieb nicht nur als Intellektueller und Künstler, sondern ganz dezidiert als Angehöriger der jüdischen Minderheit. Die Fremdheit, die das Ich verspürt, ist auch in diesem Licht zu sehen. 

Für Brod und seine Prager Freunde hatte die Idee der jüdischen Assimilation ausgedient. Stattdessen waren sie mit dem Zionismus in Kontakt gekommen, sie wollten sich neu auf ihre jüdische Identität besinnen, sie überhaupt erst verstehen. Damit kommt eine andere Lesart in den Blick, in der Brods Heimatloser eine Figur ist, die ihre mitteleuropäischen Heimatbezüge verloren, aber dabei die neue Heimat, die „tiefste Heimat“ im Land der Väter schon im Sinn hat. Man kann sich also jemanden vorstellen, der, wie Brod in dieser Zeit, Berlin oder Dresden besucht und sich dort fundamental fremd fühlt, während die Verheißung einer Heimat für Juden ihn träumen lässt. 

Das gelobte Land

Und Brod scheint diese Lesart unterstrichen zu haben, denn ein drittes Mal publizierte er sein Gedicht einige Jahre später in seinem Gedichtband Das gelobte Land (1917). Hier trägt es nun auf einmal einen neuen Titel, nämlich den des ganzen Bandes, Das gelobte Land. Zusätzlich widmet Brod das Gedicht jetzt Martin Buber und stellt es unmittelbar vor das Gedicht Hebräische Lektion, das vom Erlernen der hebräischen Sprache handelt. Damit scheint er auf den ersten Blick die Offenheit des Gedichtendes zu vereindeutigen: Das Geheimnis um die „tiefste Heimat“ ist enthüllt, sie liegt im „gelobten Land“. 

Nur: Ist es so eindeutig, wo dieses zu finden ist? Kann man einen Gedichttitel geradezu durch sein Gegenteil ersetzen, und es geht einfach so auf? Vielleicht ist es ganz anders, womöglich kommt das Ich dieses Gedichts mit dem neuen Titel auch in einer Stadt im ‚Gelobten Land‘ an und fühlt sich dort fremd... Das wäre eine Überraschung: Die Heimat, die es sich imaginiert hat, will sich nicht zeigen, es bleibt fremd unter denen, zu denen es gehören sollte. 

Brod verstand sein Judentum mit den Jahren zunehmend als eines, das überall am Ort sein konnte, auch wenn Jerusalem nach wie vor eine exzeptionelle Rolle in der jüdischen Existenz zukam. Zionismus hieß für ihn vor allem, sich zu seiner jüdischen Identität bekennen. Auch das Gedicht Hebräische Lektion zeugt nicht so sehr von der Vorbereitung für eine Auswanderung, sondern vom Kennenlernen der eigenen kulturellen Überlieferung. Daher ist auch die Lesart wahrscheinlich, in der die „tiefste Heimat“ über eine konkrete Auswanderung in das damals osmanische Palästina hinausweist und eine metaphysische Orientierung am Judentum bietet – jenseits der Dualität von Assimilation und Auswanderung. 

Interessant ist jedenfalls, dass Brods Texte in ihrer Zeit nicht auf die begrenzte Gruppe der assimilierten Juden allein wirkten, sondern sich auch nichtjüdische Künstler und Intellektuelle in der darin geschilderten Heimatlosigkeit wiederfanden. Das Gedicht stellt also mehr als eine Vorstellung davon in den Raum, was Fremde und was Heimat – „tiefste Heimat“ – ist.

Heidelberg im Oktober 2025
Hans-Christian Riechers, TP A07

Zu sehen ist der Text von Max Brods Gedicht der Heimatlose